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BLOG FRIDAY mit Tilo Schulz

Paula Modersohn-Becker Kunstpreis 2020: Nominiert in der Kategorie Hauptpreis

Die Arbeiten von Tilo Schulz im Barkenhoff

Tilo Schulz (*1972 in Leipzig) ist als Künstler und Kurator Autodidakt. Er arbeitet konzeptionell und in ganz unterschiedlichen Medien: Malerei, Bildhauerei und Installation. Zunehmend sind auch Sprache und Performance ein Element seiner Arbeiten. Tilo Schulz ist ein Formenwandler, der sich auf immer neue Weise mit dem Verhältnis von Kunstwerk und Betrachtendem auseinandersetzt. Oft ist seine Kunst direkt für den jeweiligen Ausstellungsraum konzipiert und begehbar. Manchmal sind die einzelnen Elemente so auf dem Boden positioniert, dass die*der Besucher*in keine andere Wahl hat, als sich zu dem Kunstwerk zu verhalten, seinen Standpunkt zu verändern, sich zu bewegen. Was Schulz eigentlich mit seiner Kunst untersucht, ist die Bewegung – die Bewegung als wahrnehmende Fortbewegung und die Bewegung als Veränderung.

Interview mit Tilo Schulz

Tilo, allein schon aufgrund der vielen verschiedenen Medien und Materialien, die du anwendest, zählen deine Arbeiten zu den komplexeren Kunstwerken. Für mich bist du wie ein Formenwandler unter den Künstler*innen. Ein Kernthema deiner Arbeit ist die Bewegung. Was steckt hinter der Bewegung als Wissensproduktion und welche Formen von Bewegung können deine Arbeiten annehmen?
Tilo Schulz, I built a dessert under the bridge but didn’t cross it yet, 2014, Linoleum, MDF, Schaumstoff + Seile, Betongewichte, Acrylfarben, Ausstellungsansicht im Kunstverein Hannover, Courtesy: Jochen Hempel Galerie + Privatsammlung, Foto: © Raimund Zakowski

Du rufst einen interessanten Begriff auf: Formenwandler. Er greift zwei verschiedene Denkrichtungen von Bewegung auf, die für mich wichtig sind. Die Bewegung als eine wahrnehmende Fortbewegung und die Bewegung als eine Veränderung. Im besten Falle verbinden sich die beiden. Was die Veränderung betrifft, stellt sich natürlich die Frage, ob es um eine Veränderung der Form, der künstlerischen Methode (oder ganz groß: der Welt) geht oder vielmehr um die Veränderung des Gegenübers (genauer: der Beziehung zwischen Kunstwerk und Besucher*in).

Im engeren Sinne geht es mir immer um die Beziehung von Kunstwerk und Besucher*in, aber die Verschiebung der Methoden sind ein Weg, diese Beziehung ins Schwanken zu bringen. Kurz gesagt: die Bewegung ist für mich der künstlerische Eingriff in die Beziehung von Kunstwerk und Betrachter*in. Das kann das Umgehen, Durchschreiten eines Kunstwerkes sein, die Verhinderung der Bewegung, genauso wie die Verunsicherung des Standpunktes. Aber es kann auch mehr im Intimen passieren; unterschiedlich tief gerahmte Bilder, die dir unterschiedlich stark entgegenrücken.

Deine Arbeiten beziehen den Betrachter unmittelbar mit ein. Dieser muss sich immer irgendwie zur Kunst verhalten. Er kann sie z. B. begehen oder wird durch sie hindurch gelenkt. Wie reagieren die Besucher darauf? Versuchst du bestimmte Reaktionen oder auch Irritationen gezielt hervorzurufen, oder lässt du den Dingen freien Lauf?
Tilo Schulz (mit Sybille Berg), city fear_origami version (module I – IV), 2005, Siebdruck auf Kompaktschichtstoffplatten, Ausstellungsansicht in der Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig, Courtesy: Kunstfonds Sachsen, Foto: © Enrico Grunert

Es geht mir darum, den Blick auf die Welt zu verändern, aber nicht zu sagen: so musst du die Welt sehen. Mir wird dann manchmal vorgeworfen, meine Ausstellungen bleiben an dem Punkt beliebig. Dem ist nicht so; ich setze an einer ganz anderen Stelle an. Wenn das aufklärerische Element der Kunst nur darin besteht »zu erklären«, dann reicht mir das bei Weitem nicht. Mich interessiert, Emanzipation im Sinne von Loslassen zu denken: Was passiert mit mir, wenn sich dein Blick auf mich ändert? Und wie veränderst du dich? Dieses aktive Erkennen von Welt versuche ich lustvoll und immer wieder neu zu interpretieren.

Als ich Anfang der 1990er Jahre auf dem zweiten Bildungsweg mein Abitur nachholte, belegte ich als Leistungskurs Mathematik, weil es mir das kreativste Fach schien. Mein sehr erfahrener Lehrer machte uns früh deutlich, dass ihn das Rechenergebnis nicht wirklich interessieren würde. Wir sollten stattdessen nach eigenen Lösungsansätzen und -wegen suchen, egal wie weit wir kommen würden. Diesen Ansatz – das Denken zu stimulieren – habe ich tief verinnerlicht und in meiner künstlerischen Karriere immer wieder modifiziert.

Was war denn für dich das bislang spannendste und welches das aufwendigste Projekt?

Die Frage ist wie die nach dem Lieblingskind ganz schwer zu beantworten. Die Sammlungspräsentation »Mixed Zone – Dialoge zwischen Kunst und Design« im Neuen Museum Nürnberg dieses Jahr war sicherlich aufgrund der Größe und Komplexität des Unterfangens – neun Museumsräume, neun inhaltliche Felder, zwei Museen… – eine der schwierigsten und gleichzeitig dankbarsten Aufgaben, denen ich mich als Künstler gestellt habe. Trotzdem möchte ich Schritt, zwischen im Haus der Kunst in München herausstellen.

In dieser begeh- und hörbaren Installation von 2014 brachte ich fünf meiner Hauptinteressen in einer Arbeit zusammen: Raum-Text-Bewegung-Malerei-Inszenierung. Den knapp 250 qm großen Ausstellungsraum habe ich mit einer deutlich reduzierten Deckenhöhe aus schwarzem MDF nachgebaut, um 18 Grad gedreht und weiter in den Raum geschoben. Durch die Drehung wurde ein Teil des Raumes verdrängt. Dem verdrängten Raum wollte ich eine Stimme geben; ich schrieb dafür einen lyrischen Text, der von einer Schauspielerin eingesprochen wurde und aus fünf Lautsprechern in der Raumdecke nacheinander und auf die Raumzonen verteilt erklang und somit die Besucher*innen durch den Raum leitete. In der neu gebauten Architektur gab es drei reduzierte malerische Interventionen. Die Erfahrungen aus der Installation bildeten 2018 die Grundlage für die sich mehrfach verändernde Arbeit im Flug. flüchtig (Partitur) in Bernhard Hoetgers Rotunde in der Großen Kunstschau Worpswede.

Tilo Schulz, im Flug. flüchtig (Partitur), 2018, Kompaktschichtstoffplatten, Acrylfarbe, Klebefolie, Gummimatten, -klötze, 3 Performances, Ausstellungsansicht in der Großen Kunstschau Worpswede, Courtesy: Jochen Hempel Galerie, acb Gallery, Foto: © Werner J. Hannappel
Du arbeitest als Künstler sowie auch als Kurator. Für das Machen einer Ausstellung sind das zwei unterschiedliche Perspektiven. Wie darf sich der Besucher das vorstellen, trennst du diese beiden Funktionen und Blickwinkel voneinander? Oder ist das bei dir ein fließender Übergang und die zwei verschiedenen Blickwinkel sind möglicherweise eine gegenseitige Bereicherung?
Tilo Schulz, Die Kunst ist abstrakt geworden, 2007,
Milchglassteine, MDF, Ausstellungsansicht in der Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig, Courtesy: Stiftung Federkiel,
Foto: © Uwe Walter

Es ist ganz klar Letzteres: eine Bereicherung. In den konzeptuellen Ausstellungsformaten der 1990er Jahre (»e.w.e. – exhibition without exhibition«, »body of work: the ideal exhibition« oder »The real and the fake«) ist die Frage, ob das nun ein Kunstwerk von mir oder eine kuratierte Ausstellung sei, letztendlich nicht zu beantworten. Bei den klassischen Ausstellungsformaten und -programmen danach zeigt sich sehr deutlich, dass ich mit der Erfahrung eines Künstlers die Ausstellungen konzipiere und inszeniere. Wobei ich hervorheben muss, dass die meisten Ausstellungen in Zusammenarbeit mit Kuratorinnen und Kuratoren entstanden sind. Dadurch führen beide Sichtweisen per se zu einem ganz besonderen Ergebnis mit unterschiedlichen Blickwinkeln, Einfühlungsvermögen.

Auf jeden Fall bringe ich als Künstler das Wissen um die Produktion eines Kunstwerkes mit. Dein Beispiel zeigt, dass eine akademische Ausbildung für eine Künstlerkarriere nicht zwingend erforderlich ist. Mit Ende Zwanzig warst du als Autodidakt bereits auf diversen Ausstellungen vertreten.

Wie bist du zur Kunst gekommen, und welche Rolle haben Preise und Stipendien für deinen Werdegang gespielt?

Das war eine andere Zeit. Die fortschreitende Akademisierung der Kunst und auch der Kunstausbildung in den letzten zwanzig Jahren lässt eine solche Entwicklung (Autodidakt) kaum noch zu. Aber du fragst mich danach, wie ich zur Kunst gekommen bin. Ich stamme aus einer Arbeiterfamilie, und Kunst spielte bei uns keine Rolle. Ende der 1980er Jahre begann ich (noch in der DDR) eine Ausbildung in einem Kohlekraftwerk. Mit den gesellschaftlichen Umwälzungen 1989/90 zerbrach meine Familie, verschwand das Gesellschaftssystem, in dem ich aufgewachsen war, und mein moralisches Gerüst löste sich auf. Um mich wieder artikulieren zu können, begann ich mit der Suche nach einer neuen Sprache. Diese Sprache wurde auf Umwegen die Kunst. Allerdings habe ich die Suche nie beendet. Der Drang nach Bewegung und Veränderung, den wir am Anfang des Interviews thematisierten, ist in dieser Suche nach einer Sprache begründet. Stipendien haben mir dabei immer Pausen finanziert, Räume für Reflexion, Rampen für einen Neuanfang. Kunstpreise hingegen begreife ich als eine Anerkennung.

Du möchtest mehr Einblicke in die Ausstellung zum Paula Modersohn-Becker Kunstpreis 2020 bekommen? Die Online-Kuratorenführung gibt es demnächst auf unserem YouTube-Kanal.

Abb. oben: Blick auf die Installation von Tilo Schulz in der Kunstpreis-Ausstellung im Barkenhoff, Foto: © Jörg Sarbach/Worpsweder Museumsverbund

Einführungstext und Interview: Gesa Jürß, Worpsweder Museumsverbund