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Interview mit Tilo Schulz

Wann haben Sie zuletzt [anders] geschaut? Ist [anders] schauen nicht eine notwendige Methode, um unsere Welt auch hinter den Dingen, die uns – zumeist von Dritten vermittelt – gezeigt oder erzählt werden, zu erkennen? Und ist nicht die Kunst eine permanente Herausforderung, die uns zu einem [anders] schauen provoziert?

Jörg van den Berg und Tilo Schulz auf dem Dach der Rotunde der Großen Kunstschau, Foto: © Worpsweder Museumsverbund
Jörg van den Berg und Tilo Schulz auf dem Dach der Rotunde der Großen Kunstschau, Foto: © Worpsweder Museumsverbund

Die Große Kunstschau unternahm im Rahmen von Kaleidoskop Worpswede den Versuch, die Betrachter*innen mit einer veränderten Perspektive auf vielleicht allzu Bekanntes zu konfrontieren. Sie wendete den Blick dabei keinesfalls zurück, begriff das Museum nicht als ein Lager toter Dinge, sondern als einen Ort für Zukunft, von dem aus eine Neuerzählung beginnen konnte.

Das Grundprinzip der Ausstellung war der Dialog, denn Ausstellen heißt, Begegnungen zwischen Kunstwerken und zwischen Kunstwerken und Menschen zu inszenieren. Die Besucher*innen wurden explizit dazu eingeladen, die Ausschilderung zu den Werken zu übersehen, nicht zuerst nach Künstler*innen, Titel oder Entstehungsjahr zu fragen. Stattdessen sollten die Besucher*innen sich fragen, warum das eine neben dem anderen hängt, warum diese oder jene Konstellationen in einem Raum zusammenfanden. Wo bilden sich Distanzen, wo Nähen?

Die Ausstellung teilte sich in verschiedene Sektionen. Im Altbau, erbaut von Bernhard Hoetger in den 1920er Jahren, reagierte die Inszenierung und reagierten die eingeladenen Künstler*innen und Werke auf die sehr spezifischen Vorgaben dieser einzigartigen Architektur des norddeutschen Expressionismus. Kaleidoskop Worpswede begriff Hoetgers Architektur als eine Bauskulptur, auf die genauso Bezug genommen werden sollte wie auf seine Plastiken und Skulpturen. Der Neubau teilte sich in drei Sektionen: ich, ichs, wir/still leben/Landschaft. Die Sektionen nahmen Bezug auf die drei Hauptsujets der alten Worpsweder Kunst – den Menschen, die Landschaft und das Stillleben –, sprengten dabei aber nachhaltig den Rahmen des Erwartbaren.

Die Ausstellung [anders] schauen war als ein sinnliches Ereignis angelegt, das von den Besucher*innen ein Denken im Raum erforderte.

»Der Körper ist immer politisch.«

Ein Gespräch zwischen Tilo Schulz und Jörg van den Berg

Wir haben dich eingeladen, eine neue ortsspezifische Arbeit für einen der ikonischsten Orte in den Worpsweder Museen, die Rotunde von Bernhard Hoetger, zu realisieren. Du bist dann recht bald vor Ort gewesen. Wie hast du diesen so eigenartigen Raum mit seinem eingesenkten Oberlicht, seiner Kuppel wahrgenommen?

Ich kannte die Rotunde bereits von einem privaten Besuch. Allerdings habe ich das abgesenkte Oberlicht immer als eine Platte, eine abgehängte Decke wahrgenommen und nicht als Kuppel. Zudem war der Bühnenraum durch eine Wand abgetrennt. Mit dem Rückbau der Wand und dem Wahrnehmen der Kuppel vergrößerte sich der Raum für mich deutlich in zwei Richtungen: nach oben und hin zur Bühne. Durch die Öffnung bekam der Raum etwas Landschaftliches, etwas Weites. Auch wurden Hoetgers geometrische Formen stärker sicht- und spürbar: die kreisförmige Rotunde, der rechteckige Bühnenraum und der dreieckige ehemalige Eingang. In dieser Symbiose habe ich viel Potential gesehen und eine Beweglichkeit, wenn nicht gar Bewegung gespürt.

Zu meiner großen Überraschung hast du dich dann gegen eine Wandmalerei und für eine viel beweglichere Form einer den Raum besetzenden, besser bespielenden Arbeit entschieden. Achtzehn einzelne hochformatige Platten. Woher kam diese Idee?

Tilo Schulz, im Flug. flüchtig (Partitur), 2018, Foto: © Matthias Jäger

Tatsächlich liefen die ersten Überlegungen in Richtung einer Malerei auf der gebogenen Wand in der Rotunde. Diese Malerei wollte ich jede Woche vor Ort verändern (übermalen), gleichzeitig sollte der Prozess der Veränderung über unterschiedliche Blicke auf die Malerei begleitet werden. Kameras und Monitore sollten dabei genauso eine Rolle spielen, wie Skizzen, Proben, aber auch reflektierende Live-Kommentare von wichtigen Denkern wie Rolf Hengesbach. Diese sollten im Raum unter der Kuppel platziert werden, aber auch wieder in das Bild zurück führen. In einem unserer Gespräche in der Rotunde über diese Bewegung ›vom Bild und ins Bild zurück‹ brachtest du frühere modulare Arbeiten von mir ins Spiel.

Und dann ging auf einmal alles ganz schnell; innerhalb des Gespräches verabschiedete ich mich von der Wandmalerei hin zu einem in sich variablen Bild. Dieses Bild sollte nicht von der Wand aus agieren, sondern aus dem Raum heraus – also nicht von der Wand zum Publikum hin, sondern aus dem Bewegungsraum der Besucher*innen.

Tilo Schulz, im Flug. flüchtig (Partitur), 2018, Foto: © Matthias Jäger

Die Platten sind in der Fläche weiß, an den seitlichen Rändern schwarz und 280 cm hoch. Auf der einen Seite hast du ein Raster aus dann schwarzen Linien einfräsen lassen und eine gestisch-abstrakte Malerei aufgebracht. Auf der Rückseite drei Gedichte, die sich über alle Platten verteilen, wodurch sich luftige Setzungen einzelner Worte oder Satzsegmente ergaben. Auch zeigt der Text, indem immer wieder landschaftliche Referenzen auftauchen, dass er offensichtlich für Worpswede entstanden ist. Text, Bild, Skulptur, Installation, Performance – das sind alles Formen, in denen du dich artikulierst. Kannst du kurz erklären, woher die Arbeit mit Wort und mit Malerei in deinem Oeuvre kommt? Und wieso wolltest du hier an diesem Ort beides zusammenbringen?

Mich zu äußern, mich zu verhalten sind grundsätzliche Wesensarten meines Menschseins. Mit dem Zusammenbruch der gesellschaftlich-en Verhältnisse und meiner familiären Strukturen Ende der 1980er Jahre verlor ich nicht nur mein moralisches Gerüst, sondern auch die Sprache. Seitdem versuche ich, mir eine Vielzahl an Sprachen zurück zu holen und sie miteinander in Schwingung zu versetzen.

Tilo Schulz, im Flug. flüchtig (Partitur), 2018, Foto: © Matthias Jäger

Anfang der 1990er Jahre war das Verhältnis von Malerei und Text in meiner Arbeit ein didaktisches. Innerhalb des Formenmalerei-Projektes (1992–1996) stellte ich den Bildern Texte und Zeichnungen zur Seite, um die Genese der Bilder zu verdeutlichen. Ende der 1990er Jahre entstanden dann formale szenische Stücke und das Langgedicht im Stadtraum für die Biennale Manifesta 2 in Luxem-burg. Zusätzlich kam es immer wieder zu Kooperationen mit Autorinnen wie Sibylle Berg oder Barbara Köhler.

Heute kann ich mit der Textebene viel freier umgehen, die didaktische Note ist verschwunden. Die drei Gedichte als Teil von im Flug. flüchtig (Partitur) bauen einen Bezug zu der Malerei auf der Rückseite auf, nehmen Elemente der Performances vorweg und begleiten sowohl das Publikum als auch die Arbeit selber in die Welt (oder auch nur Umgebung) außerhalb des Museums. Man könnte fast meinen, dass der Text als Kitt der unterschiedlichen Elemente der Arbeit fungiert, wäre da nicht der Fakt, dass der Text selbst Teil der Arbeit ist.

Es ist dabei nicht uninteressant, dass ich den Text und seine rigide Form parallel zur Malerei entwickelt habe. Zwischen 5 und 8 Uhr am Morgen habe ich geschrieben und am Nachmittag bis in den Abend hinein stand ich im Atelier und arbeitete an der Malerei. Beides ging innerhalb dieses Prozesses ineinander über und stieß in der jeweils anderen Sprache Reaktionen an. Diese Bewegung zwischen Malerei und Sprache definierte dann auch die Eckpunkte für die Performances und damit das Installieren der 18 Platten in der Rotunde; die Gummiklötze und Matten kamen hinzu. Ich wollte die Komplexität erhöhen, statt das Ganze weich zu kochen. Dass Literatur und Malerei in Worpswede immer zusammengehört haben, ließ die Entwicklung nur logisch erscheinen.

Im Verlauf der Ausstellung hast du die Installation gemeinsam mit der Schauspielerin Laetitia Mazzotti in Bewegung und zum Erklingen gebracht. Diese Performances waren für mich absolute Höhepunkte, weil sie die Arbeit wie den Hoetger-Raum jeweils völlig verändert hinterlassen haben, weil sie den Raum als einen Klangraum und weil sie die unerhörte Beweglichkeit (oder: Flüchtigkeit) deiner Installation zur Erfahrung gebracht haben. Wie hast du diese drei Auftritte erlebt?

Hoetger hat mit der Rotunde der angrenzenden Bühne einen Klangkörper gegenübergestellt. Ich wollte den Grund dafür erfahren. Dazu mussten wir die Kuppel mit Klang aktivieren. Neben einer Improvisation der textlichen Ebene/der drei Gedichte, entwickelte Laetitia Mazzotti fünf stimmlose Tone– ähnlich dem reduzierten Vokabular in der Malerei. Mit diesen fünf Tönen erarbeiteten wir dann gemeinsam eine Dramaturgie für die Performances vor Ort. Die Dramaturgie orientierte sich stark an dem konkreten Ort sowie an der Beweglichkeit der Platten im Raum.

Die drei Performances stellten sich sehr unterschiedlich dar; gab es in der ersten Performance eine klare Klimax, so lässt sich die zweite als ein fast monotoner Gleichklang beschreiben. Was mir jedoch hängen geblieben ist, sind zum einen ein faszinierendes Erkunden (fast Abtasten) des Raumes mit den rein durch Atmung provozierten Tönen der Schauspielerin und zum anderen die hohe Konzentration des Publikums. Die kleinste Unruhe hätte diese sensible Verbindung von Atmung und Architektur zusammenfallen lassen.

Tilo Schulz, im Flug. flüchtig (Partitur), 2018, Foto: © Matthias Jäger

Wenn du über deine gegenstandfreien Malereien sprichst, dann verwendest du häufig sehr physische, auch existentielle Begriffe. Die Körper, die Psyche der Betrachter*innen scheinen dir wichtiger als kunstimmenente Diskurse. Hat diese Form der Malerei für dich eine politische Dimension?

Der Körper ist immer politisch, so ist die Bewegung des Körpers. Wenn dir als einzelner Person oder als gesamter Gesellschaft diese Bewegung verweigert wird, dann wird dein Verhalten zu dieser Verweigerung ein politischer Akt.

In im Flug. flüchtig (Partitur) spielen verschiedene Körper eine Rolle: die Besucher*innen der Ausstellung, die Akteure der Performance, der Klangkörper der Kuppel, die Platten als Figuren und nicht zuletzt das Vokabular der Malerei. Wenn diese Körper in Bewegung gesetzt werden, kann ›das Politische‹ eine Stimme erhalten und bewusst werden. Allerdings entbehrt dieses Verständnis jeglichen agitatori-schen Ehrgeizes; vielmehr geht es um einen emanzipatorischen Raum.

Deine Arbeit im Flug. flüchtig (Partitur) ist dann unmittelbar aus Hoetgers Rotunde weitergezogen in einen völlig verschiedenen architektonischen Raum, nämlich das obere Foyer des berühmten Bielefelder Zentrums für interdisziplinare Forschung. Kannst du kurz beschreiben, wie sich die Arbeit verändert hat und was du dort gemacht hast? Den Kontext im Zentrum für interdisziplinare Forschung (ZiF) in Bielefeld muss man räumlich und inhaltlich betrachten. Räumlich war es ein Durchgangs- und Aufenthaltsraum mit verschiedenen Zu- und Ausgängen außerhalb der Konferenz-räume in einem modernistischen Betonbau der 1970er Jahre. Inhaltlich war ich an die Forschungsgruppe ›Felix Culpa?‹ Zur kulturellen Produktivität der Schuld gekoppelt. Das war kein glücklicher Zufall, sondern eine bewusste Einladung aufgrund des von dir eben bereits angesprochenen Interesses an existentiellen Fragen von Menschsein.

Mit der Überführung von im Flug. flüchtig (Partitur) in dieses Foyer verlor die Arbeit ihre Spezifik, die sie in Hoetgers Rotunde und in Worpswede entfaltet hatte. Aber bereits nach wenigen Tagen wurde deutlich, dass die Arbeit sich vielfältiger äußern kann und durchaus Anschlussfähigkeit an ausgewählte Diskurse beweist. Ich war für drei Monate am ZiF und habe die Installation der Platten täglich umgebaut. Mal waren es kleinere Veränderungen, mal völlige Umwälzungen verbunden mit einem Neuanfang. Ich hatte mir dabei immer für ein bis zwei Wochen einen thematischen Rahmen gesetzt. So entstanden einmal aus allen 18 Platten zwei hüttenartige Architekturen, ein andermal fungierten sie eher als Bewegungs-bremsen im Raum. Die Gummimatten und -blöcke begannen ein Eigenleben und besetzten selbständig eigene Räume.

Es war ein gänzlich anderer Umgang mit der Installation, viel freier, losgelöst von den konkreten Bezügen in Worpswede. Das war einer-seits ein Verlust und zeigte andererseits die Fähigkeit dieser Arbeit, sich einzumischen und eigene Themen in bereits laufenden Diskussionen zu platzieren.

Tilo Schulz, im Flug. flüchtig (Partitur), 2018, Foto: © Matthias Jäger