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BLOG FRIDAY mit Susanne Kutter

Paula Modersohn-Becker Kunstpreis 2020: Nominiert in der Kategorie Hauptpreis

Ein Kronleuchter liegt zertrümmert auf dem Boden. Scherbenhaufen aus Glas tragen Titel wie Mary had enough. Wohnräume werden geflutet oder wie durch eine Schrottpresse zusammengeschoben. Neben dem Phänomen von Naturkatastrophen und Zerstörung geht es in den Arbeiten von Susanne Kutter (*1971 in Wernigerode) u. a. auch um den stetigen Verlust privater Sicherheit und Kontrolle und die fortschreitenden Veränderungen intimer Beziehungsgefüge. Bestehende Ordnungen werden dabei hinterfragt und kehren sich um. Über ihre Inszenierung hat Kutter immer nur bis zu einem gewissen Grad die Kontrolle. Sie schafft die Kulissen, wählt die Materialien, die sich entsprechend ihrer bildhauerischen Qualität verhalten (Scherben zerbrechen, Holz schwimmt) und überlässt ihre Arbeit ab einem bestimmten Moment dem Zufall …

Interview mit Susanne Kutter

Fliegen, Spinnen, Falter oder Schaben bewegen sich unkontrolliert in winzigen fragilen Raumkulissen und wirken dadurch überdimensional groß. Welche Reaktionen lösen diese Bilder im Betrachter aus und welche Rolle spielt der Betrachter grundsätzlich für Ihre Arbeiten?

Ich suche die Tiere nach ihren physiognomischen und motorischen Eigenschaften aus. Die Insekten und Spinnen bewegen sich gemäß ihrer artspezifischen Möglichkeiten und Bedürfnisse. Bestimmte Arten von Schaben können senkrecht an Wänden hochkrabbeln, Schmetterlinge orientieren sich beim Fliegen am Licht und Spinnen sind Raubtiere, die in ihrem Revier auf Beute warten. Es findet eine Maßstabsverschiebung statt, wenn die kleinen Tiere in den Modellen gefilmt oder fotografiert werden. Sie sind die einzigen Lebewesen in dieser Kulisse. So werden sie zu Protagonisten der Handlung – ähnlich wie Kafkas Gregor Samsa, der eines Morgens nach unruhigen Träumen in Gestalt eines Käfers aufwacht.

Susanne Kutter, Im Schlafzimmer, 2010, Foto (Duratrans) in Leuchtkasten, aluminiumeloxiert, 69 x 55 x 12 cm, Foto: © Joerg Sarbach

Die Wirkung eines Kunstwerkes entsteht in der Vorstellung des Betrachters. Als Erschafferin des Kunstwerkes bin ich auch seine erste Betrachterin. Jeder weitere Betrachter bringt seine eigene Sichtweise mit. Diese Sichtweise unterscheidet sich zwangsläufig von meiner eigenen, weil jeder Einzelne Verschiedenes erfahren und wahrgenommen hat in seinem Leben. Somit verändert und erweitert jeder Betrachter die Wirkung eines Kunstwerkes ein kleines bisschen. Ich versuche, mit meiner künstlerischen Arbeit die Assoziationsketten in eine bestimmte Richtung zu lenken, vollständig kontrollieren kann ich sie aber nicht. Man muss als Betrachter allerdings auch die Motivation und die Fähigkeit mitbringen, sich auf ein Kunstwerk einzulassen. Das ist im Leben genauso wie in der Kunst. Ansonsten entdeckt man immer nur das, was man schon kennt.

Die eigenen vier Wände sind ein heiliger Ort, der Schutz und Sicherheit zugleich bietet. Das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung ist in Artikel 13 des Grundgesetzes fest verankert. Nur wenige Personengruppen, wie Schornsteinfeger oder Feuerwehr dürfen im Notfall auch ohne Erlaubnis in diesen privaten Schutzraum eindringen.

Die eigenen vier Wände bieten nur bedingt Schutz und Sicherheit. Die meisten Gewaltverbrechen in Friedenszeiten passieren innerhalb der Familie. Die engsten Beziehungen werden leider viel zu oft von Repressalien, Manipulationen und Machtdemonstrationen bestimmt. Die vermeintliche Sicherheit im Privaten ist eine Illusion. Außerdem haben Wohnungen und ihre Einrichtung immer auch eine Signalwirkung für die Außenwelt. Sie repräsentieren das Innere der Bewohner, ganz ähnlich wie Kleidung. Spätestens seit der Ausstrahlung der Fernsehshow Big Brother wurde die Grenze zwischen »privat« und »öffentlich« massiv verschoben. Dadurch wurde auch die private Schamgrenze verschoben. Die Entwicklung des Internets hat diese Tendenz verstärkt. Betritt man das World Wide Web, kann man sich vor einer Flut von privaten Bildern und Videos kaum schützen. Die Grenze, die das Privatleben schützt, ist durchlässig und brüchig geworden. Von diesem Verlust des Geheimnisvollen und Unbekannten handeln die Arbeiten auch.

Das Video zeigt wie ein Wohnzimmer geflutet wird. Mit steigendem Wasserpegel widersetzen sich die Einrichtungsgegenstände der Schwerkraft.
In Flooded Home sehen wir ein Wohnzimmer im Stile der 50/60er Jahre, das bis unter die Decke mit Wasser geflutet wird. »Omas kleinbürgerliche Stube« wirkt muffig und heimelig zugleich – die perfekte Konservenbüchse der Erinnerungen. Nach welchen Eigenschaften wählen Sie die Einrichtungsgegen-stände aus und was soll dem Betrachter durch diese Inszenierung suggeriert werden?

Ich versuche, die Interieurs meiner Arbeiten sehr detailreich zu gestalten. Jeden einzelnen Gegenstand habe ich irgendwo am Straßenrand oder in Trödelläden entdeckt und aufgrund seines Aussehens und seiner physikalischen Eigenschaften mitgenommen. Dabei ist mir wichtig, dass die vorgestellten Dinge eine eigene Historie haben, eine individuelle Gestalt aufweisen und bestimmte bildhauerische Qualitäten besitzen. Sind sie beispielsweise aus Porzellan oder Glas, können sie in Scherben zerschlagen werden. Holzgegenstände zersplittern und zerbersten entlang ihrer Wachstumsfasern, wenn man sie bricht. Da sie aus einem organisch gewachsenen Material geschaffen sind, setzen sie dem Gestalter Grenzen. Diese »Hindernisse« eröffnen häufig interessante Möglichkeiten im gestalterischen Prozess. Außerdem haben Gegenstände aus Holz die Eigenschaft, im Wasser zu schwimmen. Auch die äußere Form eines Dinges spielt eine Rolle. Etwas Rundes ist deutlich stabiler, wenn von außen Druck darauf ausgeübt wird, als etwas eckig Gebautes.

Die entscheidende Rolle bei der Auswahl spielt für mich, ob ich in dem Gegenstand bildhauerische Möglichkeiten sehe und ob sich beim Betrachten in meinem Kopf eine kleine Geschichte entwickelt. Die alltägliche Bedeutung des Dinges interessiert mich dabei nur zweitrangig. Werden die Dinge dann einer physikalischen, bildhauerischen Kraft ausgesetzt, verändert sich ihre ursprünglich definierte Bestimmung. Das ist ein elementarer gestalterischer Prozess. Darin offenbart sich eine Art der Befreiung der Dinge. Ich stelle die Alltagsgegenstände quasi auf eine Bühne, und dort bekommen sie eine neue Chance ihres gestalterischen Ausdrucks.

Das Video beginnt mit einem vermeintlichen Rendezvous und endet mit der katastrophalen Zerstörung des Raumes. Unter ohrenbetäubendem Getöse wird eine Wand in den Raum hineingeschoben und verdichtet dabei ähnlich wie in einer Schrottpresse die gesamte Inneneinrichtung des Wohnzimmers.
Worum geht es in den Arbeiten Moving Day, Die Zuckerdose und Flooded Home und welche Elemente haben die drei Videoarbeiten gemeinsam?

Inhaltlich setze ich mich immer wieder mit dem Verhältnis von »Natur« zu »Kultur« auseinander. In diesem Zusammenhang interessieren mich vor allem Naturkatastrophen. Die Natur erobert sich zunehmend den vom Menschen geschaffenen Kulturraum zurück und zerstört ihn. In teilweise aufwendigen, bühnenhaften Versuchsanordnungen habe ich vermeintlich sichere (Wohn-) Räume inszeniert, die von physikalischen, natürlichen Kräften zerstört werden. Die Arbeiten erzählen von der Überlegenheit der Natur gegenüber dem menschlichen Bestreben nach Kontinuität und Sicherheit und richten den Fokus auf das mitunter dramatische Moment der Veränderung eines scheinbar stabilen Gefüges.

Bei meiner Arbeitsweise spielt auch der Zufall eine bedeutende Rolle. Durch die experimentelle Inszenierung der Zerstörung entwickeln sich Bilder von eigentümlicher Poesie und Komik. Die Konfrontation von Gegensätzen – beispielsweise ein in einem Schwimmbecken geflutetes bürgerliches Wohnzimmer – erzeugt ironische Distanz und Ambivalenz. Die Arbeiten reflektieren den stetigen Verlust privater Sicherheit und Kontrolle. Sie thematisieren fortschreitende Veränderungen intimer Beziehungsgefüge, die Veränderung der Rolle der Frau in der westlichen Gesellschaft, auch das Verschwinden einer bürgerlichen Mittelschicht, die von Werten wie Kultur, Bildung, Wohlstand und Traditionen geprägt wurde. Immer wieder tauchen Themen wie Zerstörung, Bedrohung, Verlust und Desillusionierung auf. Bestehende Ordnungen werden dabei hinterfragt und kehren sich um.

Der Betrachter wird bei Ihnen zum Zuschauer und Beobachter einer Inszenierung. Da das Schauspiel häufig im vermeintlichen Schutz der vier Wände stattfindet, kommen schnell Assoziationen von Überwachung auf. Inwiefern gibt es hier biografische Parallelen zu Ihren künstlerischen Kernthemen?

Sicherlich spielt die Flucht aus einem diktatorischen Staat in meinem Leben und in meinen künstlerischen Arbeiten eine Rolle. Die mit einer Landesflucht einhergehenden ambivalenten Gefühle wirken sich immer auf die Sichtweise und die Wahrnehmung von Menschen aus. Trotzdem zeigen sich die Auswirkungen individuell sehr unterschiedlich. Außerdem gibt es unzählige Ereignisse in meinem Leben, die mich tief berührt haben und die nichts mit der Flucht zu tun haben. Als Künstlerin versuche ich mich diesen Themen spielerisch zu nähern, mit Humor, aber auch mit Gewissenhaftigkeit und Ehrlichkeit.

Das Experimentierfeld meiner Arbeiten gleicht teilweise einem Spielplatz für ungezogene Jugendliche. Nichts bleibt an seinem vorbestimmten Platz. Es wird gezündelt, geflutet, aufgewirbelt, umgeworfen, zerquetscht, in Unordnung gebracht und auf den Kopf gestellt. Das so entstandene Chaos entwirft eine neue, kreative Ordnung und folgt dem Kreislauf der Natur, in dem alles einer stetigen Veränderung unterworfen ist. Sich diesem Kreislauf unterordnen zu können, ist meiner Meinung nach eines der wichtigsten Menschheitsziele.

Du möchtest mehr Einblicke in die Ausstellung zum Paula Modersohn-Becker Kunstpreis 2020 bekommen? Die Online-Kuratorenführung gibt es demnächst auf unserem YouTube-Kanal.

Einführungstext und Interview von Gesa Jürß, Worpsweder Museumsverbund

Abb. oben: Susanne Kutter, Transformationsstörung, 2020, Holz, Parkett, Kronleuchter, Kabel, transparentes Epoxidharz, ca. 160 x 170 x 45 cm, Foto: © Joerg Sarbach; Für alle Arbeiten von Susanne Kutter gilt: © VG Bild-Kunst, Bonn 2020.